Frankfurter Frischling: Das ist keine Jung-Wildschweinwurst aus dem Glas. Das ist Christian, der bei der Velotour Frankfurt-Eschborn zum ersten Mal für die Scuderia gefahren ist. In seinem Bericht erlebst du, was das Geile an Jedermannrennen ist: Obwohl du Amateur bist, lebst du Radrennen wie ein Profi. Bei Christian heißt das neben über 100km abgesperrter Strecke z. B. akribische Planung (11-28er? Oder doch 11-25er?) und ausgeklügelte Ernährung. Ob er an der Mammolshainer Rampe zerschellt ist oder leichtfüßig hochflitzte liest du hier.
Es war frisch an diesem Morgen des 1.5.2018. Der Frühling hatte in den vorausgegangenen zwei Wochen mächtig vorgelegt und wie viele andere Radfahrer war ich auch von den außergewöhnlich warmen Temperaturen von bis zu 28 Grad Ende April verwöhnt. Auf der Hinfahrt von Köln nach Frankfurt war von dem wärmsten April seit Beginn der Wetteraufzeichnungen die Rede.
Nun stand ich da, zum einen stolz im feinen, hautengen Scuderia Zwirn, den ich ab diesem Tag offiziell tragen durfte, zum anderen bitterlich frierend, als ich mich 7 Minuten vor Start auch von meiner letzen Alibi-Schicht, meiner dünnen Windjacke, mit klammen Fingern trennte und diese sorgsam in der Rückentasche verstaute. Mein Blick fiel auf die blauen Lippen meines Gegenübers, der in einem, mülltütenähnlichen, flatternden Etwas da stand. Um mich nur Maschinen mit wuchtigen Waden. Ich versuchte ein Lächeln- „professionell bleiben, junge, keine Schwäche zeigen“, dachte ich mir. „So machen es auch dir Profis.“ So weit die Theorie.
Die Reise zum zweiten Wettkampf in meinem Leben außerhalb der Grenzen von Köln begann einen Tag zu vor und zwar mit einer Vollsperrung auf der A559, auf den ersten 5km Autobahn. Meine Freundin und ich nutzten den Brückentag, um aus Köln Ehrenfeld über Frankfurt Eschborn zum Abholen der Startunterlagen nach Bad Vilbel anzureisen. Hier erwartete uns Teile der Familie meiner Freundin und wir freuten uns beide sehr, die drei mal wiederzusehen, den Abend zu verbringen, dort fürstlich zu speisen und zu nächtigen. Ihrer telefonischen Bitte einige Tage zuvor, doch bitte meine ernährungstechnischen Bedürfnisse im Detail zu skizzieren, kam ich gerne nach und so erwarteten uns Pasta, Hähnchenbrust in Parmesantomatensucco und Süsskarttoffeln in rauen Mengen Von den Vorjahren wusste ich jedoch: Zuviel des Guten wird mit Schlaflosigkeit bestraft. Trotzdem hauten wir alle ordentlich rein. Zwischenzeitlich holte ich kurz noch mein Rad aus dem Auto und schmückte mein Equipment mit den zahlreichen Startnummer: Lenker, Sattelrohr ( das erste mal war hier schon der Zeitnahmechip eingelabelt, sodass die lästige Abgabe nach dem Rennen entfiel) und Trikot. Eine gute Vorbereitung und lieber etwas mehr als zu wenig Zeit eingeplant, sind für mich essentiell. Nur die Reifen werden am Renntag aufgepumpt, alles andere muss gepackt und bereitgelegt sein.
Bei Erdbeeren und Vanillejoghurt kamen dann die Durchfahrzeitpläne, Höhenprofile und Streckenkarte auf den Tisch und ich äußerte meinen Wunsch, dass sich die Familie am Mammolsheiner Stich postieren sollte. Dies war der letzte Anstieg des Rennens und ich ahnte, dass diese unvorstellbar steile Kurzrampe mit 22% Steigung so kurz vor Schluss des Rennens zur Bewährungsprobe werden würde. Dies gestaltete sich doch schwerer als gedacht, denn die Straße nach Mammolshein wurde ab ca. 11:00 Uhr bis 16:00 gesperrt für den Autoverkehr, sodass die einzige Option darin bestand, in das 2km benachbarte Kronberg mit der Regionalbahn zu fahren von dort dann durch das, die beide Ortschaften teilende Tal zu wandern um sich in Mammolsheim zu postieren.
Nun installierte ich noch den MikaTiming Tracker auf mein Handy und auf das meiner Freundin um meine Position während des Rennens zu orten und bereitete mein Frühstück vor. Schon lange fahre ich hier gut mit Müsli und Haferflocken (50/50), die ich abends schon Milch vermische und über Nacht einweiche. Morgens wird dann noch mit Quark vermengt und mit 1-2 zermatschten Bananen gesüsst. Dazu 1-2 Tassen Kaffee und der Tag konnte beginnen.
Wie auch an diesem Morgen wachte ich deutlich vor dem Weckerklingeln um 06:15 erwartungsgemäß auf. Komplett abzuschalten im Schlaf vor einem Wettkampf gelingt mit eigentlich nie. Mein Körper ist dann wie programmiert. Mechanisch schälte ich mich in die Radler, begab mich nach oben in die Küche, stellte den Kaffee und begann meine gigantisch anmutend, gequollene Portion Müsli aus der Tupper schaufeln unter den Augen der wachsamen Hauskatze.
Punkt 07:00 saß ich Auto. Auch die 25min Anreise liefen weitestgehend problemlos, auch weil Christian, ein guter Freund und unglaublich fitter Duathlet, mit dem ich plante zusammenzufahren, noch einen Geheimtipp bzgl. Parkplätze teilte. Diesen teilte ich auch mit Joscha, der mit Daniel und Fabio am gleichen Tag anreisten. Beim Auspacken und zusammensetzen des Rades spürte ich bereits die Kälte.
Ich zog alles an, was ich eingepackt hatte: Skirolli, Windjacke. Mein Blick fiel auf meine 11-28 Kassette meines Votec VRC Comp Pro und ich musste schmunzeln. Ursprünglich wollte ich mit meiner bei Rennen erprobten Tempomaschine Radon Vaillant fahren, die jedoch mit 11-25 ausgerüstet ist. Beim Radon schätze ich das ausgeglichene und aerorad-typische, fast träge Verhalten bei hohen Geschwindigkeiten, das mir persönlich sehr viel Sicherheit vermittelt. Aus den vergangenen Jahren wusste ich, dass die 17-18 Prozent auf der Nordschleife hiermit fahrbar sind. Joscha besuchte mich noch einen Tag zuvor, um die Startunterlagen mit Vollmacht vorbeizubringen, da ich mich bereit erklärt hatte, diese am Vortag abzuholen. Er riet mir, falls 28 verfügbar wären, diese auch aufzuziehen. Feldberg und Ruppertshein in den Beinen, würden meine Beine mir das danken. Spontan entschied ich mich, daher auf mein mit 28er Ritzel ausgestattetes Votec umzubauen, was sich auf das Umsetzen der Power2Max Kurbel beschränkte. Normalerweise ist ein Wechsel auf ein anderes Rad so kurz vor dem Rennen ein großer Fehler, da der Körper im Training auf ein Modell perfekt angepasst ist und über die Trainingsmonate mit ihm zu einer Symbiose aus Mensch und Maschine wird. Da ich jedoch gezielt nach identischen Rahmenmassen zum Radon beim Kauf achtete, konnte ich das Rad nach Bikefitting Vorgaben von Komsport auf die identischen Einstellungen bringen. Eine der besten Entscheidungen, wie sich final bei km 89 herausstellte…
Mittlerweile war auch Joscha eingetroffen, wir tauschten Startunterlagen aus und ich begann mich dann kurz einzufahren um überhaupt mal annähernd warm zu werden, bedacht darauf nicht anzuschwitzen. Die Auskühlung würde dann nur noch schneller passieren. Endlich waren dann auch die Jungs fertig und wir rollten langsam zum Start.
Die obligatorische Vorjahresreferenz, die bei Anmeldung angegeben werden muss, ergab den Startblock 1b, da es beim Münsterland Giro 2017 nur für einen Schnitt unter 40 gereicht hatte.
Aus mehreren Gründen akzeptierte ich dies. Zum einen hörte ich von Radrennen, in denen die einzelnen Startblöcke sukzessiv freigeschaltet werden würden und beim nicht beantragten und genehmigten Wechsel eine Disqualifikation drohen würde. Zum Anderen konnte ich meine Form in den letzten Wochen vor dem Rennen noch nicht gut einschätzen. Außerdem wartete Christian auf mich in 1b und wir wollten, wenn irgendwie möglich, zusammen den Feldberg in Angriff nehmen, auch wenn ich gewichtstechnisch unsere Chancen, beisammen zu bleiben, als äußerst gering einschätzte. Der Gewichtsunterschied (65kg zu meinen 77kg) erschien mir zu groß und ich fürchtete, hier nicht mithalten zu können. Daher plante ich, mir die knapp 700hm am Stück knapp unter meiner Schwelle gut einzuteilen, um genug Reserven zu haben, Ruppertshein, kurz „Rupsch“ wie ich am Vortag gelernt hatte, und den Mammolsheiner Stich bewältigen zu können. Außerdem wollte ich gerade in Mammolshein nochmal Stärke zeigen- schließlich sollte meine Freundin ja sehen, dass sich die entbehrungsreiche Zeit der unzähligen Trainingseinheiten gelohnt hat.
Schon weit vor dem einsortieren in die Startgruppen verloren wir uns alle und nun stand ich da im ersten Drittel von1b bei 7 Grad und fror. Ein Raunen ging durch die Starter als plötzlich die Wolkendecke Aufriss. Der Sturm vom Vortag hatte sich gelegt. 105km lagen vor mir -noch 3 Minuten. Ich klickte ein und rückte die Brille zurecht. Totale Fokussierung, 100% Nervosität. Die Bilder und die Enttäuschung vom Vorjahr zogen wieder an mir vorbei: 3.10.2017: Münsterland Giro. Chaos, Fahrfehler, unzählige Stürze. Der Blick nach hinten, als ich den Aufschrei hinter mir hörte, als offensichtlich zwei Fahrer kollidierten und einen Massensturz direkt hinter mit auslösten. Das Gefühl des wegrutschenden Hinterrads, als der gestürzte Fahrer in eben dieses noch einschlug beim Fallen. Dann das Ausweichen und abkippen in den Straßen-Graben, als es 20km später wieder direkt vor mir kracht und final ein Peloton, das geteilt durch die Stürze nach dem aufrappeln gegen den Wind nur 100m vor mir uneinholbar mit gut 45km/h im Schnitt wegzieht. Frustration. Wut. Dankbar heil geblieben zu sein. Tiefpunkt und die Frage: warum mache ich das? Soll das nicht Spaß machen?
„Sorry“ reißt es mich aus meinen düsteren Gedanken, „kannste mal kurz die Folie hinter die Absperrung legen?“, spricht mich der Mülltütenfahrer an. „Klar“ widerfährt es mir „viel Erfolg!“
Und schon geht es los. Der erste Startblock ist schon raus, ohne größere Zeitdifferenz startet Block 2. Ich fädele mich in den zähfliessenden Verkehr ein. Mir ist bewusst, dass ich mich heute in 1b nicht weit nach vorne arbeiten kann. Dafür reichen meine Kraftreserven und auch die nötige Dreistigkeit nicht. Also verbrachte ich erstmal etwas Zeit damit, auf Tempo zu kommen, sowohl in mich reinzuhören, also meine Wahrnehmung mit der tatsächlichen Leistung abzugleichen und parallel auf die Bewegungen der Mitfahrer zu achten.
Der Erfahrung nach brauche ich einige km an der Schwelle um meine volle Leistung abzurufen. Das vergleiche ich immer mit einem Auto, welches man im Stand warmlaufen lassen will. Dass das nicht funktioniert, da der Motor nur unter Last warm wird, ist allgemein bekannt.
Genauso verhielt es sich dann auch nun im Rennen, nur dass es durch den komplett kalten Körper erwartungsgemäß länger dauerte. Die ersten km taten weh und ließen mich im Ungewissen, je näher wir jedoch Frankfurt kamen, desto weicher liefen die Beschleunigungen und der „Motor drehte sauber hoch“ Auch der Kopf funktionierte wieder: „Wer vorne fährt, fährt nicht hinten“, besagt ein altes Radfahrer-Sprichwort. Also zog ich immer kurz vor den leicht ansteigenden Autobahnüberfahrten raus und sortierte mich weiter nach vorne ein, bedacht darauf, die Belastung möglichst gering zu halten. Was ich nun brauchte, war Vertrauen, in meine Tages-Leistungsfähigkeit.
Großen Respekt hatte ich vorher vor der Frankfurt-Durchfahrt. Schienen, unterschiedliche Strassenbeläge, parkende Autos, ein sich komprimierendes Feld bei Straßenverengungen…
Aber es kam alles anders. Wir rauschten rein nach Frankfurt, aus wahnwitzigen 44km/h 3,4 Mal kurz anbremsen, Ecke nehmen und wieder hochbeschleunigen. Nur eine Ecke war kritisch. Hier kreuzten die Schienen beim Linksabbiegen, und der Bereich war gespickt von zahlreichen, teils aufgeplatzten Getränkeflaschen und große Lachen rutschiger Getränkeflüssigkeit. Im letzten Moment konnte ich eine Flasche umfahren. Und schon waren wir raus aus Frankfurt. Meine Anspannung wich fast vollends. Es begann Spaß zumachen, als ich nun die Beine etwas hochlegte und bei 180-200 Watt hinten locker mitrollte und wieder aufs große Blatt schalteten wollte. Jäh wurde ich aus meinen Tritt gerissen, als mein Vortrieb wich. Die Kette war heruntergefallen. Schaltfehler, Schlagloch, falsche Einstellung? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe es nicht mehr im Nachhinein reproduzieren können. Schade – War ja auch egal. Ich fluchte kurz, zeigte den Defekt an und ließ mich rausfallen. Kette drauf und kurz zurückgeblickt, denn die Gruppe vor mir lief seit Frankfurt mit gut 42km/h gegen den Wind raus und ich hatte hier keine Chance wieder dranzufahren. Der nächste „Zug“ dampfte schon heran und ich setzte mich rein. Minimal langsamer, war diese Gruppe nicht homogen genug, zusammenzubleiben und riss ständig. Für mich bedeutete dies: 100% Aufmerksamkeit nach vorne und immer wieder nach vorne fahren, um nicht im sich auflösenden Schweif zu landen. Und dann sah ich Christian 5, 6 Reihen vor mir und in mir auch wieder Motivation aufflammen. Ich zog noch zweimal raus, setzte mich neben ihn und schrie ihn an, dass es schön wäre ihn zu sehen. Er blickte kaum auf, denn er kämpfte, Lippen zu schmalen Strichen gepresst. Vermutlich hatte auch er schon viel Arbeit leisten müssen um seine Position zu behaupten. Obwohl wir subjektiv auf einem ähnlichen Leistungsstand sind, sehe ich mich ich in der Ebene persönlich leicht im Vorteil durch längere Beine und mehr Gewicht. Ab dem Punkt fuhren wir zusammen, es war großartig mit einem guten Freund und erfahrenem Sportler zusammen zu fahren und es waren nun auch nur noch wenige km zum Anstieg des Feldbergs.
Darauf freute Ich mich, denn genau solche Anstiege mit 500-800hm am Stück hatte ich Ende März noch trainiert in Form von Pässefahren im Berner Oberland an der Grenze zur französischer Schweiz, wobei die Steigungen hier im Schnitt mit 8-10% deutlich höher lagen. Trotzdem war ich skeptisch, meine angepeilten 275-280 Watt im Mittel zu halten.
Die Herausforderung beim Feldberg ist das Steigungsprofil. Ich wusste, dass das oberste Drittel zweistellig wird und man im ersten Drittel verwöhnt wird. Daher plante ich mir eine Reserve ein. Schnell drückte ich noch ein Gel rein und dann flogen wir in die von dichten Wald gesäumte Straße den Feldberg hoch. Die Gruppe von ca. 30-40 Leuten hatte sich schon vor dem Anstieg aufgelöst. Ärgerlich, aber ich war auch zu sehr mit mir beschäftigt mich darüber zu ärgern. Es war still geworden. Das Rauschen des Windes, der Reifen und der Felgen war dem monotonen surren der Kette gewichen. Es lief gut und es tat weh. Christian arbeitete sichtbar mit Reserve, ich musste sie antasten. „Mensch, Chris, besser kann es eigentlich nicht kommen, wir haben Rückenwind“, raunte Christian rüber. Recht hatte er und noch lief es gut, als ich die nächsten 3 Fahrer vor mir im Schneckentempo überholte. „So müssen sich LKW- Fahrer fühlen“ dachte ich mir…
Mir fiel das erste mal der Straßenzustand auf – wenn ich an die vergangenen RuKs denke, bei denen der Fahrbahnzustand jedes Jahr schlechter wird und subjektiv rein gar nichts unternommen wird, zumindest einmal ein paar Wochen vorher mal die ärgsten Löcher zu stopfen, waren die Strassenverhältnisse bei diesen Rennen wirklich gut.
Ich vernahm langsam lauter werdende Bässe im vier viertel Takt: Und wenige Meter später öffnete sich die Straße zu einer weiten Rechtskurve mit einem großen Parkplatz im Innenradius. Hier war vermutlich schon früh groß aufgefahren worden: Riesige Anlage, Techno und jede Menge Menschen jubelten und feierten, als wir uns die Kurve hochschraubten. Eine großartige Stimmung, die die Strapazen kurz vergessen ließen.
Die km liefen runter und ich orientierte mich an den angezeigten Höhenmetern von meinem Garmin, ein folgenschwerer Fehler, den ich dann bei 800m angezeigter, reell jedoch maximal 700m Höhe erst bemerkte. Denn ich hatte hier bereits den Druck verstärkt um die letzten 50m über die Kuppe zu drücken und dann tauchte erst das 1km Schild auf, welches den Beginn des letzten km der Bergwertung kennzeichnete. Dadurch hatte ich mich verzockt. Ich verfluchte die Technik. Wozu hatte man eine barometrische Höhenmessung, wenn diese 100m zu viel anzeigt? Ich hatte keine Zeit und Kraft mich darüber zu ärgern und quälte mich die letzten steilen Höhenmeter hoch und levelte final bei 950 Garminhöhenmetern mit Chris. Ein kurzer Blick auf die Leistung stimmte mich jedoch zufrieden: 292Watt im Schnitt hoch zum Feldberg waren mehr, als ich erwartet hatte.
Bereits nach wenigen Metern nach der Kuppe zeigte der Tacho Werte deutlich über 60km/h. Trotzdem besann ich mich, fleißig zu trinken und das nächste Gel reinzudrücken um zu regenerieren. Eine recht anspruchsvolle Tätigkeit in Situationen, bei denen eigentlich beide Hände an den Bremsgriffen verlangt werden und man parallel kaum mit dem Luftholen nach dem Anstieg nachkommt.
Die Abfahrt machte Spaß. Anbremsen, antreten, anbremsen. Bein raus, Bein rein. Das sind die Momente, bei denen man eine grosse Portion Glücksgefühle ins Blut gepumpt bekommt. Dafür fahre ich Rennrad. 84km/h sollten hier letztendlich meine Tageshöchstgeschwindigkeit sein.
Unten angekommen realisierten wir schlagartig, wie kalt wir geworden waren. Ich konnte meine Finger kaum bewegen und so ging es wohl allen. Es ging aber direkt in die nächste Welle rein und Rupsch war bereits in wenigen Kilometern erreicht.
Diese nächsten Kilometer waren unspektakulär und anstrengend, da die Gruppe klein war und ich viel Tempoarbeit leisten musste und wenige 100m vor der Kuppe in Rupsch war es dann um mich geschehen. Hilflos musste ich mitansehen, wie Chris mit der kleinen Gruppe über die Kuppe flog und da fuhr ich dann, alleine.
Ich fühlte mich leer, zum eine mental zum anderen körperlich. Eine „ist doch jetzt egal Stimmung“ stellte sich kurzfristig ein, als ich durch die Ortschaften Kelkheim bis Schwalbach fuhr. „Essen, Trinken, junge“ widerfuhr es mir, denn Essen hält ja bekanntlich Leib und Seele zusammen. „wenn du schon nichts gerissen bekommst, dann Reiß dir wenigstens einen Riegel auf.“ Ich kurbelte in GA2 weiter. Zwischen den einzelnen Ortschaften sah ich dann einen weiteren Einzelkämpfer an den ich mich dran saugte, als der Riegel (subjektiv empfunden) wirkte. Zweimal wechselten wir durch, als ich abwinkte, da zumindest mein Kopf wieder begann zu arbeiten. Der Junge war auch an Limit. Tiefroter Kopf. „vergiss es“ sagte ich und fügte hinzu: wenn willst du einholen?“ Anhand seiner Reaktion merkte ich., wie tief im Tunnel er sich aktuell befand: wild schüttelte er den Kopf: nein!! Weiter komm, weiter!“ Ich drossele das Tempo, und genoss die Stimmung auf der die Ortschaften durchziehenden Hauptstraße. Jung und alt hatte sich hier versammelt. Ich jubelte zurück und wurde mit Jubel zugedeckt. So schöpfte ich neue Motivation, blickte zurück, sah endlich die nächste Gruppe und ließ mich final schlucken. Wenige km später wurde auch der andere Solofahrer geschluckt, der sich offensichtlich verheizt hatte. Mammolshein stand nun auf der Speisekarte obwohl mein Hunger an anaeroben Betätigungen langsam gestillt war.
Ich freute mich trotzdem, meine Freundin und die Verwandten zu sehen und die positiven Gefühle in Kombination mit einem Gel zündeten.
Bevor es auf die Rampe in Mammolshein geht, ist es konstant moderat ansteigend bis zur Ortseinfahrt, in der Ortschaft wird es dann steiler bis man dann final rechts in die legendäre Seitenstraße mit 22% Steigung abbiegt. Im Ort wurden wir von Didi Senf und seinem Dreizack begrüßt. Ich hatte ein Ziel: Im Sitzen, ohne Schlangenlinien konstant hochkurbeln.
In den niedrigsten Gang geschaltet bog ich ab und da lag sie vor mir. Steil und schonungslos. Pure Selbstzerstörung. Joscha hatte nicht übertrieben. Mechanisch zog und drückte ich und unterdrückte parallel das Verlangen aus dem Sattel zu gehen. Obwohl beim Wiegetritt höhere Einzelleistungen pro Bein im sog. Downstroke erzielt werden können, sinkt die Effizienz des „runden Gesamttritts“ erheblich. Immer wieder ertappte ich mich bei der vergeblichen Suche nach einem niedrigeren Gang, während mein Blick fest auf den menschengesäumten Randbereich gerichtet war.
Später erzählte mir meine Freundin, sie habe mich schon von weitem erkannt: „Man sah nur zusammengebissene Zähne“
Patrizia, meine Tante hatte bereits im Vorfeld angekündigt, komplett zu eskalieren und das tat sie denn auch, sprang aus den Zuschauern nach vorne und sprintete, die Hand zur Faust geballt, neben mir hoch. Sie brüllte mich hoch. Gänsehaut, Tour de France Feeling. Es sollte mein persönliches Highlight an dem Tag werden. Die letzten steilen Meter zog ich an und drückte über die Kuppe.
Was letztendlich viel mehr wehtat als der Stich, war die nicht aufhörende lange Steigung im Anschluss. Aber ich hatte genug Adrenalin und Motivation, meinen Tritt zu halten und auch meine Leistungswerte hatten keinen starken Abfall.
Geschafft – Es fand sich eine kleine Gruppe und wir sprachen uns kurz ab, nach der Ortsdurchfahrt Kronberg zu Kreiseln. Diese war schnell und auch danach wurde mit 45km/h Schnitt gebolzt. Wir flogen nur so dahin und sammelten nur noch ein. Kurz vor Eschborn war die Truppe gut 25 Mann stark und Eschborn kam unglaublich schnell näher.
Erfahrungsgemäß werden auf den letzten 10-20km vor Schluss die Fahrer unaufmerksam und damit steigt das Unfallrisiko schlagartig. Das liegt an der abfallenden Konzentration bei gesteigertem und leider unnötigem Risikobewusstein, Daher habe ich mir angewöhnt, mich am Schluss des Rennens in der Gruppe nochmals um volle Fokussierung zu bemühen und das war auch nötig, da der L3005 Abbieger nach Eschborn zum Ziel ärgerlicherweise nicht ausgeschildert war. Es war noch nicht einmal ansatzweise zu erahnen. Ob hier mutwillig etwas demontiert wurde, oder ob es einfach vergessen worden war, bleibt für mich offen. Selbstverständlich werden vielleicht manche sagen, dass man wenige Stunden zuvor ja auf der anderen Seite auf die Schnellstraße vom Start gefahren war und dass es eigentlich somit Selbstverständlich ist, hier wieder einzubiegen. Wenn man jedoch 100km mit 1400hm in den Beinen hat, das Rennen zum ersten Mal fährt und kein Frankfurter oder gar Eschborner ist, ist wohl verständlich, dass man das nicht sofort erkennen kann.
Die Verzögerung war so abrupt dass ich rausziehen musste und um das Ausfahrtsdreieck fahren musste um nicht aufzufahren. Ich war nicht der einzige. Eine unnötige und gefährliche Situation, die die Euphorie der Zieleinfahrt kurzzeitig dämpfte.
Aber dann war es vollbracht. Platz 224 von ca. 1800 Fahrern bei der großen Runde und einen 35er Schnitt. Und die Teamwertung wies den 9. Platz aus. Offiziell wird die Zeitnahme mit 105km gerechnet, was den Schnitt sogar auf über 36 heben würde.
Es war ein toller Tag, ein schöner Einstieg in die Saison auch wenn ein paar Sachen nicht so geklappt hatten, wie geplant.
Mit diesem Rennen blicke ich positiv in das Jahr und freue mich schon auf die nächsten Rennen!
Christian Thamm