Im Land der Raketenwürmer – Oder: Warum ich ein geiler Typ bin

 

Serpentinen zum Galibier aus Richtung Lautaret-Pass. (c) Ole Buckendahl

Eigentlich kennt ihr mich als zurückhaltenden, bescheidenen Menschen, der jede Steigung im Bergischen abfeiert. Doch jetzt bin ich mit anderen Scudis zum Tour de France gucken und Radfahren in den Alpen und in der Auffahrt zum Col du Glandon ist die Erkenntnis in mich gefahren: Ich bin ein geiler Typ! Warum? Und was sind eigentlich Raketenwürmer?

„Zum Warmfahren fahre ich immer nach La Bérarde“, hatte mir Mathieu erzählt, kurz bevor ich mit einigen Scuderisten und Laufkollegen von Jonas in die Alpen (das Land der Raketenwürmer) aufgebrochen bin. Den Tipp habe ich einfach mal so an die anderen weitergegeben und so haben wir uns am ersten Tag auf den Weg nach La Bérarde gemacht, um locker einzurollen.

An so einem Fluss kann es nicht flach sein… (c) Ole Buckendahl

Natürlich hätten wir stutzig werden sollen, als uns in der Radsportbroschüre der Region für diese Strecke 1700 Hm auf 66 km angekündigt wurden (unser Hausberg mit etwa 500 Hm noch nicht mit eingerechnet). Natürlich hätte ich keine Führung übernehmen sollen, als wir mit 35 Sachen in Richtung unseres ersten Anstiegs geballert sind. Natürlich hätte ich nach einer nicht ganz ausgestandenen zweiwöchigen Erkältung und einer Nacht im Auto besser gar nicht aufs Rad steigen sollen.

Aber du kennst das: Natürlich findet man sich doch auf dem Rad wieder. Zusammen mit Scuderia-Raketen, deren ausgemergeltes, wurmhaftes Aussehen davon zeugt, dass sie hier in den Alpen in ihrem Element sind. Raketenwürmer eben. Im Land der Raketenwürmer. Und das, was wir für einen Rollerberg innerhalb eines seicht ansteigenden Flusstals gehalten haben, ist ein knallhartes, steiles Brett neben einem reißenden Gebirgsfluss. Nicht zu schweigen von den beiden Passagen mit durchschnittlichen 11 % auf jeweils 3km.

Raketenwürmer in der Auffahrt zum Col du Glandon. (c) Ole Buckendahl

Ich könnte jetzt noch viele weitere Faktoren aufzählen, die diese Tour physisch und psychisch ultra-hart gemacht haben, aber ich mache es kurz: Ich bin bei dieser Harakiri-Aktion unfassbar eingegangen. Die anderen waren deutlich schneller, also war ich ziemlich schnell auf mich allein gestellt und hatte die Möglichkeit, mir schlechte Gedanken zu machen („Schaffe ich es bis oben? Muss ich absteigen und schieben? Drehe ich um, wenn die anderen nicht mehr warten können und mir entgegen kommen?“). Ich habe mich dann immerhin hochgequält und gehofft, später den Hausberg zu unserem Chalet per Bus erledigen zu können, doch trotz Ballerns auf dem Rückweg (nochmal Aua) haben wir den letzten Bus (der sonst Downhill-Fahrer den Berg hochbringt) verpasst. Und so schleppte ich mich also, nah am Krampf, auch noch diesen alpinen Anstieg hoch.

 

Ich war nicht der einzige, dem das „Warmfahren“ mehr zugesetzt hatte als erwartet. Deshalb entschieden wir uns an Tag 2 dazu, es noch einmal etwas lockerer angehen zu lassen und „nur“ den Col du Glandon hochzufahren – haha. Unser Scuderia-Grupetto konnte ich diesmal zwar etwas länger halten, aber ich merkte ziemlich schnell, dass ich a) noch nicht wieder zu 100 % gesund und b) ordentlich angeschlagen vom Vortag war sowie c) eine andere mentale Strategie brauchte. Für den Glandon und für den Rest der Woche (in der auch noch eine Königsetappe mit 170 km, dem Croix de Fer, dem Télégraphe, dem Galibier und vielleicht Alpe d’Huez wartete).

Diese Erkenntnis kam mir, als ich das letzte scudiblaue Trikot hinter der nächsten Kurve verschwinden sah und als ich mir eigentlich überlegen wollte, wie ich den Track bei Strava nennen könnte, um das abermalige Desaster ausreichend dramatisch zu bezeichnen. „Horrorkiri Teil II“? „Col du Schandon“? Nein! Diese Negativ-Fixierung musste ein Ende haben. Ab jetzt sollte es nur noch positive Ich-Botschaften geben. Und mein Social-Media-Image sollte nur noch Poser-Portraits vor Hochglanz-Landschaften sowie selbstbewusste Botschaften enthalten. Ich schaffe das! Dazu macht dieser Text ab hier den Anfang.

Posing in Bourg d’Oisans. (c) Ole Buckendahl

„Ich bin Präsident!“

Es ist bestimmt hilfreich, an etwas zu denken, das man geschafft hat, wenn man sich motivieren will, etwas zu schaffen. „Ich bin Präsident!“ ist daher einer der ersten Gedanken, die mir hier durch den Kopf schießen. Ich heize zwar nicht so schnell wie die Raketenwürmer einen arschlangen Tour-de-France-Pass hoch, aber ich habe es mit Gründung der Scuderia geschafft, solche Leute um mich zu scharen. Und zwar Leute, die nicht nur schnell radfahren, sondern nette und coole Leute, mit denen ich herzlich gerne eine Woche in einer Alpenhütte am Rande der Zivilisation und am Rande der eigenen Leistungsfähigkeit verbringe. Und ich war es nicht, der die Raketenwürmer in die Alpen gebracht hat, sondern Jonas. Also wird mir wieder einmal klar, dass die Scuderia viel mehr ist als „ich“. Während ich früher viele Dinge angestoßen und angetrieben habe, haben sich viele schöne Sachen in der Scuderia verselbständigt und so entstehen auch ohne mein Zutun immer wieder schöne Scuderia-Aktionen. Wie zum Beispiel dieser Ausflug ins Land der Raketenwürmer. Mit Raketenwürmern.

 

„Ich bin vernünftig.“

Auch wenn man mit diesem Satz im World Wide Web niemanden hinter dem Ofen hervorlockt, freue ich mich darüber: „Ich bin vernünftig.“ Zumindest, wenn es darauf ankommt. Wie schon beschrieben, war es vielleicht unvernünftig, überhaupt aufs Rad zu steigen. Eben war ich aber immerhin so vernünftig gewesen, auch das Grupetto fahren zu lassen und noch langsamer zu machen. Und hier am Glandon fasse ich schon jetzt den Entschluss, am nächsten Tag einen Ruhetag einzulegen. Der Gruppendruck oder der Alprausch würden mich vielleicht auf den nächsten Gipfel, aber auch ins totale radsportliche Koma befördern.

Und trotzdem bin ich nicht langweilig, sondern positiv verrückt genug, denke ich mir. Und greife mir den Unterlenker, als ich merke, dass der Anstieg zum Glandon fast vorbei ist und ich weiß, dass hinter einer der nächsten Ecken die Raketenwürmer stehen und mich frenetisch anfeuern werden (obwohl es ja um nichts geht), wenn ich im Wiegetritt meine letzten Körner verschleudere. Morgen ist ja Ruhetag!

Beine baumeln lassen an der Romanche. (c) Ole Buckendahl

„Ich bin ein Wadenbeißer.“

Habe ich gerade geschrieben, es ginge um nichts? So ein Quatsch! Vor mir liegt der Col du Glandon und der will bezwungen werden. Ich gebe nicht auf. Schon als ich – fußballtechnisch ziemlich unbegabt – früher mit meinen Kumpels auf den Tartanplätzen meiner Heimatstadt Göttingen gebolzt habe, habe ich mir den Ruf eines hartnäckigen Wadenbeißers erarbeitet.  Wenn ich in der Abwehr war, konnte man mich zwar austricksen oder ausdribbeln. Aber: Ich blieb dran, versuchte immer wieder, an den Ball zu kommen und lief und lief und lief. Was heißt das für mich als Radsportler? Ich bin noch in keinem Rennen ausgestiegen. Ich kann mich an keinen Berg erinnern, an dem ich abgestiegen wäre, um zu schieben. Die tektonische Plattenverschiebung kann mir die 1924 m des Col du Glandon in den Weg stellen. Egal: Ich fahr drüber. Und wenn die Raketenwürmer morgen Alpe d’Huez fahren wollen und ich mir einen Ruhetag in den Kopf gesetzt habe? Dann mach ich es halt übermorgen oder komme ein andermal wieder.

 

„Ich bin ein Tausendsassa!“

Radsport ist nicht alles für mich. Mir wird klar, dass ich mich gerade nicht in der Lebenssituation befinde, um sportliche Höchstleistungen zu vollbringen. Ich führe ein Leben neben dem Radsport: Ich führe einen erfolgreichen Radverein, ich fotografiere und schreibe, ich arbeite mit viel Einsatz in meinem Job und ich faulenze auch. Und so viel sei im Internet ausnahmsweise über mein Privatleben gesagt: Ich habe eine Familie mit entzückenden Kindern, die es total wert sind, den Schlaf zu opfern, den der Radsportkörper gerne zur Regeneration hätte. Und ich habe eine mehr als liebenswerte Frau, die eigentlich die Kudos verdient, die ich hier in den Alpen ernte. Denn sie hat mir ermöglicht, eine Woche in die Alpen zu fahren und hütet so lange alleine die Kinder. Also: Kudos bitte hier eintragen!

 

„Ich bin auch ein Raketenwurm!“

Während mir diese und noch ein paar weitere positive Dinge einfallen, nähere ich mich allmählich dem Gipfel des Glandon. Eine hässliche Staumauer habe ich hinter mir gelassen und vor mir eröffnet sich der deutlich schönere Anblick des dazugehörigen Stausees unter grünen Bergwiesen (die Baumgrenze ist bereits passiert). Auf einem Parkplatz an der Staumauer beendet eine der vielen Rennrad-Gruppen, die hier unterwegs sind, ihre Pause und geht hinter mir wieder in den Anstieg. Der Berg wird für eine Weile flacher und ich überhole noch ein paar versprengte Rennradfahrer. Dabei fällt mir etwas auf: Meine Leute haben mich zwar alle abgehängt, aber sonst hat mich hier niemand überholt! Und das obwohl hier, 30 km von Bourg d’Oisans, also DEM französischen Radsportmekka, eine ganze Menge los ist! Ich finde: „Ich bin auch ein Raketenwurm!“ Und das ausgemergelte Äußere, was ich oben als „wurmhaft“ bezeichnet habe, trifft wohl auch auf mich zu…

 

Jetzt ist ein Tag vergangen und ich sitze auf der Terrasse unseres Chalets in der Sonne und tippe diesen Text. Vor mir liegt eine zerklüftete Bergkette, an deren Spitzen sich zarte Wolken verfangen. Die saftig grünen Hänge und glitzernden Schneefelder, die ich sehe, gehören zum Belledonne, den ich schon aus alten Pfadfinderliedern kenne und den ich nun zum ersten Mal bewusst mit eigenen Augen sehe („Der Berg ist wie ein König | die Krone ganz aus Eis | ein Schleier voller Blumen | jung und doch ein Greis“; den ganzen schönen und passenden Text findest du z. B. hier).

Belledonne aus Richtung Oz. (c) Ole Buckendahl

Der Wind weht mir leise um die Nase, aber ich drehe eine Playlist mit Guter-Laune-Musik auf und wippe und singe laut mit. Ich habe darauf verzichtet, heute mit den anderen Würmern nach Alpe d’Huez und Les Deux Alpes hochzufahren, aber ich bereue es keinen Zentimeter. Die Regenerationsrunde mit 30 flachen Kilometern war stattdessen genau das Richtige, denn: Die Laune ist bestens, ich fühle mich gesundheitlich viel besser und vielleicht sogar in der Lage, morgen unsere Königsetappe zu bewältigen.

Update: Königsetappe Check. Alpe d’Huez Check.